Reviews Jazz 1-12

   

Jazz For Japan

 
Various Artists - Content / Edel  
 
Die schlimmste Naturkatastrophe des Jahres 2011: das Erdbeben, in Kombination mit der in der Folge ausgelösten Tsunami-Flutwelle den Nordwesten Japans verwüstete und - in Kombination mit menschlicher Technikgläubigkeit und Ignoranz - für das schlimmste, von den Lobbies unfaßbarerweise immer noch verharmloste nukleare Desaster seit Tschernobyl verantwortlich war. Nachdem die versammelte Major-Musikindustrie mit den "Songs For Japan" immerhin ein solidarisches Zeichen setzen konnte, liegt nun auch das Ergebnis einer ähnlich gelagerten Initiative im Jazzbereich vor. Produzent Larry Robinson trommelte 25 namhafte Fusion-Jazzer zusammen, buchte die Capitol Recording Studios und nahm innerhalb von 2 Tagen Sessions mit der Créme des kalifornischen Jazz auf. Hier macht ein Namedropping Sinn: Tom Scott, George Duke, Alex Acuna, Billy Childs, Lee Ritenour, Steve Gadd, Bob James und viele mehr. Bedenklich nur die Meldung, dass gerade der Laden mit dem schönen Namen Edel nur einen Teil der durch den Verkauf erzielten Erlöse an die "Aktion Deutschland Hilft" (aktion-deutschland-hilft.de/de/hilfseinsaetze/erdbeben-japan) weiterleiten wird. Was ist da denn schiefgelaufen? Trailer/EPK: youtube.com/watch?v=roQ5Ma3hZgA  
 
 
Keith Jarrett - Rio  
ECM - Universal  
 
Liveaufnahmen finden an dieser Stelle ja nur in Ausnahmefällen statt, aber eine solche kann man wohl machen, wenn der vielleicht bedeutendste Pianist des modernen Jazz ein Live-Doppelalbum veröffentlicht, das er selbst als eines der besten in seiner Karriere betrachtet: den Mitschnitt eines Konzerts vom 11. April 2011 im Theatro Municipal von Rio de Janeiro. Zudem nahm ziemlich genau vor 40 Jahren die bemerkenswerte Beziehung zwischen Keith Jarrett und ECM-Produzenten-Legende Manfred Eicher ihren Lauf: mit dem Solopiano-Album "Facing You". Auch Jarretts auf 15 Stücke verteilte aktuelle, lyrische Improvisationen aus der braslianischen Mega-Metropole begeisterten das Publikum hörbar. Die exzellent eingefangene Akustik der Konzert-Location trug ein Übriges bei. Keith Jarrett-Fans werden keine Wahl haben - und vielleicht gesellt sich auch der eine oder andere neue Fan dazu.  

 
 
Nicholas Payton - Bitches  
In & Out / In-Akustik  
 
Wer Diven wie Cassandra Wilson und Esperanza Spalding als Gaststars auf sein aktuelles Album (noch dazu mit dem Namen "Bitches") locken kann, dessen Name muß einen Klang in der Branche haben. Der 38jährige Nicholas Payton kann noch auf keine lange Karriere zurückblicken, spielte aber als Ellis Marsalis-Schüler schon seit den Neunzigern mit prominenten Kollegen wie Elvin Jones, Wynton Marsalis, Joshua Redman oder Roy Hargrove und wurde 2008 Teil des Septetts The Blue Note 7, das mit Tour und Platte den 70jährigen Geburtstag des Labels beging. Das vorliegende Konzeptalbum verbindet ´straight-ahead jazz´ mit R&B und HipHop, bietet überdeutliche Anklänge an die jazzige Seite von Earth, Wind & Fire und hat mit dem eingängig groovenden, das Album beschließenden "Love & Faith" vielleicht sogar einen Crossover-Hit in petto. www.nicholaspayton.com  
 
 
Stacey Kent - Dreamer In Concert  
Jazz / EMI  
 
Die besonders bei unseren französischen Nachbarn beliebte amerikanische Sängerin Stacey Kent wagt sich nach ihren Erfolgen mit "Raconte Moi" und "Dreamer" an ein Livealbum (ohne allzuviel Publikumsgeräusche). Da la Kent auf unangemessene Vokalakrobatik schlauerweise verzichtet, legen furchtlos und doch intim in mehreren Sprachen souverän vorgetragene Standards von Rogers & Hammerstein, Serge Gainsbourg oder Antonio Carlos Jobim, aber auch Übernahmen von Neo-Chanson-Mastermind Benjamin Biolay den Grundstein für den soliden Eindruck, den "Dreamer in Concert" trotz fehlender Überraschungen letztendlich hinterlässt.

www.staceykent.com
 
 
 
Theo Bleckmann - Hello Earth  
Winter & Winter / Edel TIPP  
 
Kann man sich an den Kompositionen des Gesamtkunstwerks Kate Bush vergreifen, gar ein ganzes (Tribute?)-Album mit Songs wie "Running Up That Hill", "Violin", "Army Dreamers", "Cloudbusting" oder "The Man With the Child In His Eyes" ("Wuthering Heights" ist hier ausgespart), die eine ganze Generation doch irgendwie stets im Original und Kate´s Intonation im Ohr haben wird? Falls sich der Sänger und Musikperformancekünstler Theo Bleckmann diese Frage überhaupt gestellt hat, hat sie mit "Ja, ich darf das." beantwortet. Zum Glück, denn nun kann man vergleichen und nach Lust & Laune über Kreuz hören. Dem Bush´schen Songbook wird auf beinahe jedem Stück von "Hello, Earth" auf unterschiedliche Weise zu Leibe gerückt. Schlagzeuger John Hollenbeck, Bassist Skuli Sverrisson, Keyboarder Henry Hey und Caleb Burhans an Viola & Gitarre unterstützen Bleckmann und machen die Arrangements interessant, ohne eine Konkurrenz für die einzigartigen Originale sein zu wollen. Auch Bleckmann hält sich da zurück wo es aussichtslos gewesen wäre, Bush allzu genau folgen zu wollen. Insofern nötigt das Ganze eine gewisse Achtung ab, die Bleckmann wohl auch vor der Musikalität von "this woman´s work" gehabt haben muß. Lohnend. www.theobleckmann.com  
 
 
Enrico Rava Quintet - Tribe  
ECM - Universal  
 
Ein starker Monat für ECM. Neben dem Umsatzleader Keith Jarrett meldet sich aktuell auch ein Altmeister des italienischen Jazz beim Label zurück. Trompeter Enrico Rava befindet sich derzeit wohl auf dem Höhepunkt seines lyrischen Schaffens und hat ein neues Quintett, vielleicht eine seiner stärksten Besetzungen, zusammengestellt: Blue Note-Posaunist Gianluca Petrella, mit dem man ihn u.a. bereits beim Umbria Jazz Festival in bestechender Form erleben konnte, Schlagzeuger Fabrizio Sferra und zwei jüngere Talente, Pianist Giovanni Guidi und Gabriele Evangelista am Bass. Für einige Stücke kommt zudem Gitarrist Giacomo Ancillotto zum Zuge. Mit dieser Mannschaft spielt sich Rava inspiriert durch alte und neue Kompositionen, wobei die verschiedenen Gruppen-Improvisationen wie gewohnt breiten Raum einnehmen - worthwile as always. trumpet afficionados should check out (t)his site as well: www.enricorava.com  

 
 
 
Trombone Shorty - For True  
Verve / Universal LIVE-TIPP!  
 
Die energetische, wenn auch für unseren Geschmack gelegentlich einen Tick zu glatt ausfallende New Orleans-Sause aus Old School-Jazz, -Funk und -Soul , angereichert mit Rockriffs und Hip Hop-beats findet weltweit Anklang, das ist keine Überraschung. Die zunächst altmodische anmutende Dixieland-Posaune wird in den Händen von Ensemble-Chef Trombone Shorty zum heißen Lead--Instrument. Für das aktuelle Album "For True" konnte Shorty auch noch eine Riege hochkarätiger Gäste verpflichten: Lenny Kravitz (der gerade selbst in München live überzeugend hingelangt hat) , Jeff Beck, Kid Rock & Gastsängerin Ledisi. Orleans Avenue rules: Trombone Shorty & Co erneut auf Deutschland-Tour: Am 7.12. z.B. in der Münchner Muffathalle - unser Live-Tipp diesen Monat.  

 
 
Tok Tok Tok - Was Heisst Das Denn? / Live & Intimate  
Bhm - O-Ton / Zyx  
 
Die preisgekrönte Freiburger Band Tok Tok Tok erstmals in 13 Jahren Bandgeschichte auf Deutsch - und es hört sich meist gar nicht schlecht an. Über Stimme & Ausstrahlung der Deutsch-Nigerianerin Tokunbo Akinro haben wir uns an dieser Stelle ja schon des öfteren verbreitet - und nochmal, diese Frau könnte vermutlich auch Html-Code aufregend vortragen. Jazz & Soul paaren sich hier swingend mit einem gehörigen Schuß Pop. Die beiden Songschreiber (neben Akinro tok Tok Tok 2. Hälfte Morten Klein) haben diesmal jeweils separat gearbeitet, es geht, des öfteren humorvoll und auch mal nachdenklich um süße Versuchungen aller Art und Beziehungsfragen. Schade, dass die Covergestaltung wieder etwas bieder daherkommt, zumal es das Album auch als LP gibt.

Vor dem großen Schwenk auf deutsche Texte gab es noch einen sommerlichen Tok Tok Tok- Live Konzert-Mitschnitt zu vermelden, aufgenommen im Ballhof Theater von Hannover. Für "Live & Intimate" haben Klein, Akinro & Co. 12 Songs aus ihrem 2010er Konzertprogramm ausgewählt - als Bonus enthält das Album ein Video mit weiteren Konzertausschnitten. Bis auf den Stevie Wonder-Klassiker "I Wish" sind alle Tracks Eigenkompositionen - warum auch andren Leuten die Gema in die tasche spielen, wenn man selbst Songs schreiben kann? Line Up:Tokunbo Akinro - (voc) * Morten Klein - (sax, git) * Mathias Meusel - (drums) * Christian Flohr - (bass) * Jens Gebel - (keys). Und nun der Anlaß für die späte Würdigung: Gerade hat eine kleine Tour (mutmaßlich vor allem mit dem deutschen Programm) begonnen, die noch über Anfang Dezember hinaus fortgesetzt werden soll. Aktuelle Daten: www.toktoktok.eu

 



 
 
Blue Note Jazz Inspiration:
Female Vocal Jazz / Bossa Nova Jazz / Blue Note Sings
 
Blue Note / EMI  
 
1 - Lots of quality jazz for very little money... Als Opener schon Norah Jones´ Hit "Don´t Know Why", gefolgt von Diven & Topsängerinnen wie Dianne Reeves, Cassandra Wilson, Stacey Kent (s.o.), China Moses und zudem inkl. europäischer Stimmen wie Caecilie Norby oder Viktoria Tolstoy. Die roten Lippen auf dem Cover werden ein Übriges tun, den Absatz zu steigern.
2 - Noch so eine Steilvorlage und eigentlich keine wirkliche Herausforderung für das Blue Note-Archiv. Seit der Bossa-Blütezeit in den 60´s gab es stets jazzige Versionen von Klassikern wie "The Girl From Ipanema" (hier als Opener im Medley von Laurindo Almeida). Hier sind auch ältere Tracks von Künstlern wie Cannonball Adderley, Lee Morgan, Joe Henderson, Willie Bobo oder Kurt Elling zu hören unter Eingemeindung des Samba-Rhythmus.
3 - Einige Überschneidungen seitens der Interpret(inn)en - "Blue Note Sings" wirkt wie eine Verlängerung der "Female Vocal Ballads"-Folge der gleichen Budget-Serie (mit nicht ganz so animierendem Cover). Attraktiv genug ist die musikalische Seite mit jazzigen Pop Song-Interpretationen allemal: stammen die Originale doch immerhin von Größen wie den Beatles, Prince, David Bowie, Peter Gabriel, Van Morrison oder Burt Bacharach.
 
 
   

 
Previous Issue: 10/11 - 2011 © cinesoundz 2011
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